2024-12-18
1. Hintergrund
Seit dem 1.8.2022 ist die Verschreibung von Cannabis für die medizinische Anwendung in der Schweiz gesetzlich neu geregelt. Ärztinnen und Ärzte können in eigener Verantwortung mittels Betäubungsmittelrezept Cannabisarzneimittel verschreiben. Sie müssen dabei die ärztliche Sorgfaltspflicht beachten. Die Aufsicht über die Wahrung der Sorgfaltspflicht liegt bei den kantonalen Vollzugsbehörden. Bei jeder Verschreibung eines Cannabisarzneimittels ist eine Online-Meldung zur Therapie an das BAG obligatorisch.
Im Kontext der medizinischen Behandlung werden die Begriffe “Medizinalcannabis” oder “Cannabinoide in der Medizin” und “Cannabisarzneimittel” häufig verwendet. Diese Begriffe umfassen den therapeutischen Einsatz der Hanfpflanze.
2. Personengruppen, die medizinisches Cannabis nutzen
Medizinisches Cannabis gewinnt in der modernen Medizin zunehmend an Bedeutung und wird von verschiedenen Patientengruppen genutzt. Die motivationsbedingten Unterschiede und die Wirkungserwartungen haben dabei wesentliche Auswirkungen auf die Therapie.
Besonders relevant sind dabei Patienten mit Sucht- oder Missbrauchsvorgeschichte im Vergleich zu solchen, die Cannabis erstmals aus rein medizinischen Gründen verwenden. Diese Unterschiede können je nach Konsummotivation und therapeutischer Erwartung erhebliche Folgen haben. Es sind mindestens drei spezifische Fallgruppen und deren verkehrsmedizinische Implikationen zu unterscheiden.
3. Fallgruppe 1: Patienten mit ärztlicher Verschreibung
Die erste Gruppe besteht aus Patienten, bei denen der Arzt die Indikation stellt und Cannabis als Medikament verschreibt. Diese Gruppe umfasst Patienten, die zuvor keine Erfahrungen mit Cannabis hatten und nun eine Therapie beginnen, die ärztlich überwacht und reguliert wird.
Aufklärung und Behandlungscompliance
Es ist von grosser Bedeutung, dass diese Patienten umfassend über die Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen von Cannabis aufgeklärt werden. Die Behandlungscompliance, also die Bereitschaft des Patienten, die Therapie exakt nach den Vorgaben des Arztes durchzuführen, ist entscheidend für den Erfolg der Behandlung. Hierbei müssen auch Aspekte wie die korrekte Dosierung und der Einnahmezeitpunkt klar kommuniziert werden.
Fahrunsicherheit
Aus verkehrsmedizinischer Sicht stellt die Einstellungsphase der Therapie ein hohes Risiko dar. Cannabis kann die kognitive und psychomotorische Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, was die Fahrtauglichkeit erheblich verringern kann. Es ist unerlässlich, dass Patienten wissen, dass sie während dieser Phase nicht fahrtauglich sind und auf alternative Verkehrsmittel zurückgreifen sollten. Eine verkehrsmedizinische Abklärung der Stufe 4 wäre im Verlauf wichtig, um die Auswirkungen der Therapie auf die Fahrtüchtigkeit zu evaluieren.
4. Fallgruppe 2: Patienten mit vorausgegangener Cannabis-Eigentherapie
Die zweite Gruppe umfasst Patienten, die in ihrer Krankheitsvorgeschichte im Rahmen einer Selbstmedikation bereits Erfahrungen mit einer Cannabis-Eigentherapie gemacht haben und nun auf eine ärztliche Verschreibung umsteigen. Diese Personen haben eventuell auch Erfahrungen mit illegalem Cannabisbezug und Verstossen gegen das Betäubungsmittelgesetz (sogenannte Umschwenker-Problematik). Die Motivation ist durch legitime therapeutische Bedürfnisse begründet. Es ergeben sich folgende wichtige Aspekte:
Umstellung auf ärztliche Verschreibung
Die therapeutische Begleitung dieser Patienten erfordert eine besondere Sensibilität, da sie bereits eigene Erfahrungen und Erwartungen an die Wirkung von Cannabis mitbringen. Es ist wichtig, eine klare Kommunikation zwischen Arzt und Patient sicherzustellen, damit die Umstellung nahtlos und sicher erfolgt.
Rechtliche und gesundheitliche Sicherheit
Der Wechsel von illegalem Bezug zu legalem, ärztlich verschriebenem Cannabis reduziert nicht nur rechtliche Risiken, sondern auch gesundheitliche Unsicherheiten, da die Qualität und Dosierung des medizinischen Cannabis gesichert sind.
Verkehrsmedizinische Sicht
Personen, die bereits Erfahrung mit unreguliertem Cannabiskonsum haben, könnten eine verminderte Impulskontrolle und ein erhöhtes Risiko für Fahrunsicherheiten aufweisen. Die kontinuierliche Bewertung der Fahrtauglichkeit ist entscheidend. Es sollte auch bedacht werden, dass der Übergang zur legalen Verschreibung möglicherweise nicht sofort eine sichere Verkehrsteilnahme ermöglicht. Eine verkehrsmedizinische Abklärung der Stufe 4 wäre wichtig, um die Auswirkungen der Therapie auf die Fahrtüchtigkeit einzuschätzen.
5. Fallgruppe 3: Konsumenten mit Missbrauchsvorgeschichte
Die dritte Gruppe setzt sich aus Konsumenten zusammen, die eine Missbrauchsvorgeschichte und/oder drogenbezogene Delinquenz aufweisen und einen medizinischen Bedarf vortäuschen. Diese Personen streben eine Cannabisverschreibung also nur an, um ihren missbräuchlichen Konsum zu legalisieren. Die zentrale Motivationen liegt in dieser Absicht.
Fallgruppe 3 kann schwer von Gruppe 2 zu differenzieren sein. Dieser Sachverhalt wird daher ebenso als “Umschwenker-Problematik” bezeichnet. Das Verhalten wirft mehrere kritische Fragen auf. Eine verkehrsmedizinische Abklärung der Stufe 4 ist elementar, um die Motivation hinter der Verschreibung des Cannabis zu hinterfragen. Dabei ergeben sich folgende medizinische Aspekte und Herausforderungen:
Therapeutische Angemessenheit
Verkehrsmediziner stehen in einer verkehrsmedizinischen Begutachtung der Stufe 4 vor der Herausforderung, den tatsächlichen medizinischen Bedarf dieser Patienten korrekt zu beurteilen. Die medizinische Indikation muss klar und nachvollziehbar sein, um sicherzustellen, dass die Verschreibung von Cannabis tatsächlich notwendig und gerechtfertigt ist.
Vorgeschichte des Konsums und von Vergehen im Strassenverkehr
Zunächst sollte eine gründliche Anamnese durchgeführt werden, um den Umfang, die Dauer und das Muster des früheren Cannabismissbrauchs zu erfassen. Dies beinhaltet Fragen zu Konsumhäufigkeit, -menge und -zeitraum sowie zu möglichen begleitenden Gesundheitsproblemen. Es gilt des Weiteren festzustellen, ob bereits Delikte im Strassenverkehr im Zusammenhang mit dem Konsum der Drogen oder anderer Drogen vorlagen und welche Gründe dahinter steckten. Patienten mit einer Vorgeschichte des illegalen Cannabiskonsums können auch bereits eine Toleranz gegenüber Cannabinoiden entwickelt haben. Dies erfordert möglicherweise höhere Dosen, um therapeutische Effekte zu erzielen, was das Risiko von Nebenwirkungen erhöhen kann. Zudem kann diese Vorgeschichte das Risiko einer Abhängigkeit erhöhen oder sogar bereits eine Abhängikkeit bestehen. Eine körperliche Untersuchung ist notwendig, um gesundheitliche Beeinträchtigungen, die durch den früheren Missbrauch entstanden sein könnten, zu identifizieren.
Compliance und Überwachung
Die Bewertung der Bereitschaft und Fähigkeit des Patienten, an therapeutischen Massnahmen teilzunehmen, ist von grösster Bedeutung. Dies umfasst die Fähigkeit des Patienten, sich an Therapiepläne zu halten sowie eine Bereitschaft zur Teilnahme an psychotherapeutischen Sitzungen oder Suchtberatung respektive Suchtcoaching. Die Behandlungscompliance und korrekte Anwendung des verschriebenen Medizinalcannabis muss im Zweifelsfall durch den behandelnden Arzt oder verkehrsmedizinisch im Rahmen von Kontrolluntersuchungen engmaschig überwacht werden. Die Kontrolluntersuchungen sollen sicherstellen, dass der Patient gegenwärtig keinen illegalen Konsum betreibt und dass die Behandlung mit Medizinalcannabis innerhalb des therapeutisch empfohlenen Rahmens bleibt. Dieses Monitoring ist notwendig, um Missbrauch und unerwünschte Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen und zu adressieren. Es besteht ganz eindeutig das Risiko, dass Patienten die medizinische Verschreibung nutzen, um weiterhin sowohl legal als auch illegal erworbenes Cannabis zu konsumieren. Dieses Verhalten untergräbt die Integrität des medizinischen Systems und verstärkt möglicherweise illegale Aktivitäten.
6. Fazit aus Sicht der Verkehrsmedizin Thurgau - Verkehrsmedizinisches Zentrum
Die individuelle Risikobewertung umfasst allgemein bei allen drei Fallgruppen die Analyse des bisherigen Konsumverhaltens, die Effektivität vergangener und aktueller Therapieansätze sowie die allgemeine psychische Stabilität des Patienten. Dies bildet die Grundlage für die Entscheidungsfindung hinsichtlich der Fahreignung.
Die drei Fallgruppen verdeutlichen die komplexen Anforderungen an die Verschreibung und Überwachung von medizinischem Cannabis sowie die zentralen verkehrsmedizinischen Aspekte. Es ist unerlässlich, dass Ärzte und andere Gesundheitsdienstleister die spezifischen Bedürfnisse und Hintergründe jedes Patienten berücksichtigen, um eine sichere und effektive Therapie zu gewährleisten.
Unter Berücksichtigung der strengen Anforderungen für höhere Führerausweis-Kategorien ist aus verkehrsmedizinischer Sicht die Fahreignung bei einer Erkrankung, für die Medizinalcannabis verschrieben wird, grundsätzlich für höhere Kategorien der 2. medizinischen Gruppe (gemäss Anhang 1 zur VZV) abzulehnen.
Eine Befürwortung der Führerausweis-Kategorien der 1. medizinischen Gruppe ist insbesondere für Fallgruppe 3 sehr kritisch zu hinterfragen, wobei eine eindeutige Einordnung in diese Gruppe nicht immer zweifelsfrei möglich ist. Bei einer Vorgeschichte mit einer Suchtmittelproblematik wäre die Fahreignungsbefürwortung in einem verkehrsmedizinischen Gutachten der Stufe 4 auszuschliessen. Falls eine Fahreignung für Führerausweis-Kategorien der 1. medizinischen Gruppe befürwortet wird, sollte dies stets unter Auflagen erfolgen. Diese Auflagen sollten spezifisch und begründet sowie verhältnismässig sein, um eine angemessene Verlaufskontrolle sicherzustellen.
In der Schweiz sollten regulatorische und therapeutische Massnahmen weiterhin entwickelt und angepasst werden, um die verschiedenen Patientenbedürfnisse optimal abzudecken und die Patientensicherheit zu maximieren. Eine enge Zusammenarbeit zwischen medizinischen und verkehrsmedizinischen Fachkräften ist dabei von grösster Bedeutung.
Referenzen
Website/wissenschaftliche Artikel
https://medizinisches-cannabis-frankfurt.de/wissenschaftliche-studien/forschungsstand/
https://www.aerzteblatt.de/archiv/239101/Verschreibung-von-Cannabisarzneimitteln-an-Selbstzahlende
https://www.aerzteblatt.de/archiv/127598/Das-therapeutische-Potenzial-von-Cannabis-und-Cannabinoiden
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26103030/
https://praxis-suchtmedizin.ch/index.php/de/cannabis/strassenverkehr-cannabis
YouTube
https://www.youtube.com/watch?v=57u0n1jbV1Q
Ein Bericht in der deutschen Sendung Galileo, die neben den Nebenwirkungen auch das Profitstreben mit Medizinalcannabis diskutiert.
Roediger - 16:47:42 @ News zu Drogen
Verkehrsmedizin Thurgau -
Verkehrsmedizinisches
Zentrum
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8280 Kreuzlingen
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